VerwirrtTraumatisiert

Was ist das eigentlich, dieses T R A U M A ?

 

 

Ich bin in den letzten Tagen verwirrt, traurig, energielos und einsam. Ich habe ein Hörbuch gehört, in dem es um sexualisierte Gewalt und übergriffiges Verhalten ging. Es ging darum, dass die Protagonistin manchmal Panikattacken hat – dann fängt ihr Körper an zu zittern. Ich halte inne – meine Gedanken schwirren – ich erinnere mich an eine Situation, in der ich das auch sehr doll hatte. An einige Situation in denen es weniger stark war. Ich recherchiere „Panikattacke“. Da steht zittern. Da steht aber auch sowas wie Atemnot, Schwindel, Durchfall, …

 

So war es bei mir nicht.

 

Ich schreibe meiner Schwester.

 

Hast du manchmal Panikattacken?/bzw. weißt du was das ist? Ich glaub ich hab gerade realisiert das ich das möglicherweise manchmal habe

 

Wir telefonieren und sie erzählt mir, dass sie das schon hatte, mit all den oben genannten Symptomen. Wir sprechen darüber und ich erzähle ihr wie es mir gerade geht.

 

Ich muss anfangen zu weinen,

 

meine Stimme stockt,

 

ich kann nicht mehr aufhören zu weinen.

 

 

 

Ich habe das Gefühl, plötzlich bricht so viel aus mir raus. So viele Gefühle kommen hoch, so viel Traurigkeit, so viel Schmerz.

 

 

 

Ich spreche mit Menschen darüber, dass ich sexualisierte Gewalt in meiner Kindheit erlebt habe. Aber meistens erzähle ich die ungefähr gleichen Sachen, keine Details. Ich spreche nur darüber, wenn es mir gut geht und ich fühle nicht sonderlich viel dabei. Mein Körper ist meistens etwas angespannt. Wobei ich auch eher selten darüber spreche, wie es mir damit geht, meistens erzähle ich einfach nur die Rahmengeschichte.

 

Und na klar weiß ich auch von damals… es ist ein Geheimnis. Darüber zu sprechen ist also nichts, was normal ist. Es macht kein Spaß darüber zu sprechen. Es drückt die Stimmung. Ich möchte Andere nicht mit meinen Problemen belasten.

 

 

 

Nach dem Telefonat mit meiner Schwester kann ich nicht mehr aufhören zu weinen. Und es fühlt sich gut an. Ich möchte in meinem Bett liegen und einfach nur weinen. Möchte diese ganze Scheiße aus mir raus weinen, möchte diese Schwere aus mir raus weinen, möchte mich nicht zusammenreißen, möchte mir nicht schon wieder sagen, ist doch alles nicht so schlimm, eigentlich gibt es so viele tolle Sachen in deinem Leben, möchte nicht stark sein, möchte nicht diese Schwere in mir fühlen aber nicht weinen können, möchte mir nicht schon wieder sagen, dass ich einfach aufhören kann darüber nachzudenken.

 

 

 

Ich muss arbeiten am nächsten Tag und muss mich mit dem Problem konfrontieren entweder nicht zu arbeiten – dann aber erklären zu müssen warum nicht. Oder mich zusammenreißen und zu arbeiten. Und mein Schmerz und meine Tränen für mich behalten.

 

Ich gehe zu Arbeit, aber es geht nicht so lange.

 

 

 

Ich muss anfangen zu weinen, fühle mich energielos, möchte eigentlich keine Menschen sehen. Und gehe zurück in mein Bett.

 

 

 

Ich bin verwirrt, energielos und traurig. Ist es vielleicht übertrieben jetzt nicht zu arbeiten? Hätte ich mich nicht zusammenreißen können? Wer macht schon krank nur weil er*sie traurig ist?

 

Mir geht es nicht schlecht, ich bin einfach nur traurig. Und ich muss mich mit sehr vielen Gedanken rumschlagen. Immer wieder geht mir das Wort

 

 

 

V E R G A N G E N H E I T S B E W Ä L T I G U N G durch den Kopf.

 

oder T R A U M A B E W Ä L T I G U N G?

 

 

 

Aber das klingt vielleicht auch schon wieder etwas übertrieben.

 

 

 

Ich bin verwirrt. Menschen spiegeln mir, dass sie es so stark finden, wie ich damit umgehe – ob ich schonmal eine Therapie gemacht habe? Ich weiß, dass viele Betroffene von sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit/Jugend unter schwerwiegenden Folgen wie einer Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) leiden. Aber das sind immer die anderen.

 

Mir geht es gut – und ja meistens fühle ich mich auch stark. Denke, ich kann mich einfach selbst therapieren, denke mir, life is pain. Es ist manchmal wie eine Art Gleichgültigkeit.

 

Und manchmal denke ich mir – wenn mir Menschen von ihren Problemen erzählen – stell dich nicht so an, ich komm auch klar. Am Ende sind wir alle Ameisen in einem großen Ameisenhaufen und sollten uns für nicht so wichtig nehmen.

 

Auch wenn ich rational weiß und auch der Meinung bin, dass wir alle unterschiedlich sind. Das man Erlebnisse und Gefühle nicht hierarchisieren kann. Dass viele Faktoren dafür verantwortlich sind, wie man krasse oder traumatische Erlebnisse verarbeitet oder verarbeiten kann. Aber diese Gedanken kommen trotzdem manchmal in meinen Kopf.

 

 

 

Ich bin verwirrt, weil ich mir denke: Nein, ich hab noch keine Therapie gemacht, ich habe mein Studium abgeschlossen, meisten bin ich glücklich, habe eine Beziehung, viele Freund:innen, tolle Geschwister, ich bin gereist, ich fühle mich nicht eingeschränkt in meinem Alltag. Kann doch also eigentlich nicht so schlimm sein?!

 

 

 

Ich liege im Bett, fühle mich energielos, weine und möchte niemand sehen. Ich bin zum ersten Mal sehr bewusst auf einer Instagram Seite, die sich mit Traumafolgen beschäftigt. Ich lese sowas wie

 

 

Many survivors of childhood trauma downplay how terrible it really was. They are so used to being invalidated and having their reality denied that they start to question if they're making everything up. It becomes a vicious cycle of wanting to honor their feelings but hearing their inner critic say "Others have had worse! You should be over it by now." If this sounds like you and you have to go through all this regular, yes it was that bad. You deserve acknowledge how hard it was without minimizing your feelings (@emilygrantsays)1

 

 

 oder

 

 

I didn't even realize that what was happening was abuse or trauma. This was the hands of cards I was dealt; this was just normal life (@healing.and.cptsd)2

 

 

oder

 

 

The dilemma: You can't talk to anyone outside because you would be violating the unspoken rule of keeping it in the family, but no one in the house wants to talk about it, so what do you do? (@browngirltrauma)3

 

 

Undundund….

 

 

Mir ist sehr viel begegnet, in dem ich mich komplett wiedergefunden habe. Und ich frage mich – bin ich traumatisiert?

 

Wie fühlt sich das überhaupt an?

 

 

 

Mir geht der „it's just normal life“ immer wieder durch den Kopf. Mein Leben ist meine Realität und ja, auch meine Normalität. Aber wenn ich es bewusst durchgehe, weiß ich eigentlich:

 

 

 

Es ist nicht normal, dass ich kein Kontakt zu meinem Vater habe. Es ist nicht normal, dass ich ihn das letzte Mal vor Gericht gesehen habe, als ich und meine Schwester gegen ihn ausgesagt haben. Es ist nicht normal, dass ich nur mit meiner Mutter telefoniere, wenn es mir sehr gut geht. Es ist nicht normal, dass ich nie (seit ich denken kann) mit meiner Mutter darüber gesprochen habe, wie es mir geht und es immer noch nicht tue. Es ist nicht normal, dass ich Dinge erlebt habe, die so schlimm sind, dass ich sie nicht denken möchte, geschweige denn aussprechen kann. Oder vielleicht verdrängt habe. Das es mir unangenehm ist „mein Vater“ oder den Namen auszusprechen. Das ich keine alten Familienfotos anschauen möchte. Es ist nicht normal, dass mir meine Mutter sagt, dass man aus einem holprigen Leben auch manchmal gestärkt hervorgeht. Dass ich mit der Person, die mich sexuell missbraucht hat, noch jahrelang unter einem Dach leben musste, und mit meinen Brüdern, die nichts davon wissen durften. Es ist nicht normal, dass ich in den ersten Jahren, in denen ich Sex hatte, oft währenddessen daran denken musste und dass ich meistens einfach weitergemacht habe, weil ich mir dachte, dass es sonst alles nur dramatischer und schwieriger macht und ich einfach versucht habe, die Gedanken wegzuschieben. Das ich mich oft nicht selbstbefriedigen kann, weil es mich triggert. Es ist nicht normal, dass mir vermittelt wurde, dass es normal ist, noch weiterhin mit meinem Vater zusammenzuwohnen und auch noch, nachdem ich ausgezogen war, Kontakt mit ihm hatte. Es ist nicht normal, das viele meiner Mitschüler:innen gemerkt haben, dass was nicht stimmt mit mir, dass ich aber nie von einer erwachsenen Person darauf angesprochen wurde. Es ist nicht normal, dass alle Alarmglocken bei mir schlagen, wenn ich sehe, dass Väter in irgendeiner Form Körperkontakt mit ihren Töchtern haben. Es ist nicht normal, als Kind und Jugendliche keine Vertrauensperson zu haben…

 

 

Und es ist so verdammt anstrengend, jetzt unter Menschen gehen zu müssen, mit diesen Gedanken im Kopf und so zu tun, als wäre alles normal.

Aber es funktioniert. Und ich frage mich – ist es wirklich so schlimm? Und was ist das eigentlich

genau – dieses T R A U M A?

 

 

- Marie -

 

 

 

 

1Viele Überlebende mit einem Kindheits-Trauma spielen herunter, wie schlimm es wirklich war. Sie sind so gewöhnt daran, dass andere sie  nicht ernstnehmen und ihre Realität leugnen, dass sie anfangen sich zu fragen, ob sie sich alles nur ausgedacht haben. Es entsteht ein Teufelskreis: Einerseits wollen sie, dass ihre Gefühle ernstgenommen werden, aber andererseits sagt ihre innere Stimme "Anderen geht es viel schlechter! Inzwischen solltest du darüber hinweg sein." Wenn das nach dir klingt und du das regelmäßig erlebst, dann ja, es war wirklich so schlimm. Du darfst anerkennen, wie schlimm es war, und du musst deine Gefühle nicht kleinreden (übersetzt nach @emilygrantsays)

 

2Ich habe überhaupt nicht realisiert, dass das Geschehene Missbrauch oder Trauma war. Das war Schicksal, das war das normale Leben (übersetzt nach @healing.and.cptsd)

 

3Das Dilemma: Du kannst mit niemanden von außerhalb darüber sprechen, denn dann würdest du das ungeschriebene Gesetz, es in der Familie zu lassen, brechen. Aber in der Familie möchte auch niemand darüber sprechen. Also was machst du? (übersetzt nach @browngirltrauma)


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