Retraumatisierung durch den Gerichtsprozess

 

Auf der Couch neben dem quadratischen Tisch, an dem die Richterin, die Staatsanwältin, eine psychologische Gutachterin, meine Betreuerin vom Kinderschutzzentrum und ich sitzen, liegen Kuscheltiere und buntes Kinderspielzeug. Ich starre das gelbe Stoff-Pokemon an und versuche zu vergessen, dass sich in diesem Raum auch eine Kamera befindet, die jede meiner Bewegungen, Worte und Tränen aufzeichnet und speichert und dass ER im Nebenraum sitzt und mir zusieht, wie ich vor Scham und Schmerz am liebsten im Boden versinken möchte. „Hast du dich gewehrt und gesagt, dass du das nicht willst, als er dir den Rock und die Unterhose ausgezogen hat oder hast du es zugelassen?“ fragt die Richterin ein zweites Mal, weil meine Worte bei dem ersten Versuch, meine empfundene Schuld an dem Erlebten laut auszusprechen, irgendwo zwischen Sprachzentrum und Hals steckengeblieben waren. „Zugelassen“ murmle ich und kaue auf meiner Unterlippe, bis ich Blut schmecke. „Du musst lauter sprechen“, sagt die Staatsanwältin, „ansonsten sind deine Antworten auf der Videoaufnahme nicht klar zu verstehen“. Ich nicke und starre auf die Tischplatte, mein Gesicht brennt vor Scham und ich traue mich nicht, den Blick zu heben, weil ich Angst habe, Verachtung und Ekel in den Gesichtern der Anwesenden zu sehen, obwohl ich eigentlich weiß, dass mir alle Personen in diesem Raum wohlgesonnen sind.

 

 

Frage um Frage. Ich schwitze, ich weine, ich zittere, ich schweige, ich dissoziiere und steige aus dem Körper aus, den ich nicht ertragen kann, um meine leere Hülle teilnahmslos vom anderen Ende des Raumes zu beobachten. „Was ist mit dem Sperma am Boden passiert, hat er das sauber gemacht?“ Ich versuche den Würgereiz zu unterdrücken (beruhige dich, du bist hier sicher, das ist nicht jetzt, du bist nicht dort, alles ist okay), ich darf mich hier nicht übergeben, nicht vor allen anderen und vor allem nicht vor laufender Kamera (du bist am Gericht, nicht bei ihm, begreif‘ das doch endlich), aber mein Kopf spult weiter die Bilder ab, verwackelt, unvollständig und durcheinander, wieder und wieder, ich kann es schmecken (nein, kannst du nicht, es ist vorbei, nimm‘ ein Hustenzuckerl) und ich bringe kein Wort heraus, das auch nur annähernd beschreiben könnte, wie sehr man(n) mich gedemütigt und meiner Würde beraubt hatte. Schließlich stammle ich eine Antwort und will am liebsten im Boden versinken. Mahnmale aus brennender Scham kennzeichnen jeden Fleck meines Körpers, den seine Hände berührt haben. Es schmerzt so sehr. Am liebsten würde ich aus dem nächstgelegenen Fenster springen, aber ich habe zuviel Angst vor dem Tod – sterben fühlt sich schließlich scheiße an, das weiß ich aus jahrelanger Erfahrung. Ich darf eine kurze Pause machen, aber dann geht die Einvernahme weiter, stundenlang, und ich fühle mich durch die Fragen und Erinnerungen dem Schmerz und der Scham genauso ausgeliefert wie damals, als es passiert ist. Ich fühle mich beschämt und gedemütigt durch Fragen, die implizieren, dass ich mich hätte wehren können oder dass ich Verantwortung für die Gewalt tragen würde und ich fühle mich bloßgestellt und ausgeliefert, wissend, dass ER in einem anderen Stockwerk sitzt und zusehen kann, wie sehr ich mich hier quäle.

 

 

Dort in diesem Vernehmungsraum im Gerichtsgebäude fühle ich mich nicht wie eine mutige, starke, junge Frau, die über das ihr widerfahrene Unrecht nicht weiter schweigen will – nein, ich fühle mich wie das kleine hilflose 10-jährige Mädchen, das ich einmal war, und möchte eigentlich nur in den Arm genommen werden und versichert bekommen, dass dieser Alptraum vorbei ist und dass der Missbrauch niemals meine Schuld war. Stattdessen bekomme ich einen Gerichtsprozess, der sich mehr als zwei Jahre hinzieht, retraumatisierend wirkt und mit einem Freispruch endet. Es schmerzt, war aber absehbar. „Im Zweifel freigesprochen aufgrund mangelnder Beweislage“. Mein Anwalt sagt, dass ich mich glücklich schätzen könne, dass es in meinem Fall überhaupt zu einem Prozess kam – viele Anzeigen dieser Art würden wegen der geringen Erfolgsaussichten nicht einmal vor Gericht landen. Glücklich bin ich nicht, aber dass die Rechtslage bei dem Thema sexualisierte Gewalt an Kindern absolut unzufriedenstellend ist, sehe ich genauso. Aber wen interessiert das schon? Ich für mich sehe jedenfalls keine andere Möglichkeit, als mich einfach damit abzufinden und den Ausdruck „Gerechtigkeit“ als non-existent abzuschreiben. Das Gerichtsurteil verändert schließlich an meinem persönlichen Leben nichts und ich versuche weiter, den Blick nach vorne zu richten und meine Themen aufzuarbeiten, um Schritt für Schritt zu einem „normalen“ Leben zu finden. Weh tut es trotzdem. Und ungerecht ist es auch. Da man (zumindest aus rechtlicher Sicht) die Schuld von seinen Schultern genommen hat, fühle ich mich in meinen Schuldgefühlen bestätigt. Irgendeinen Schuldigen muss es ja geben.

 

 

Trotz allem bin ich privilegiert. Ich hatte und habe die Möglichkeit und den Rahmen, über die erlebte Gewalt zu sprechen, ich hatte ein professionelles Helfernetzwerk, das mich auf meinem Weg begleitet und unterstützt hat, ich habe eine großartige Therapeutin, die ich auf Anhieb finden durfte, ich bin finanziell abgesichert und habe ein verständnisvolles Umfeld sowie Rückhalt und Unterstützung durch Familie und Freunde. Ich bin nicht alleine und durfte Menschen finden, denen ich so sehr vertraue, dass ich mit ihnen auch über meine Vergangenheit sprechen kann. Damit habe ich schon um einiges mehr Möglichkeiten und Chancen, mein Leben in der Zukunft nach meinen Vorstellungen zu gestalten als viele andere Menschen in Österreich, die Gewalt erfahren mussten.

 

 

Ich wünsche mir Gehör für uns. Ich wünsche mir, dass man den Betroffenen endlich mehr Gehör verschafft als den Tätern. Ich wünsche mir einen Raum für Überlebende von Gewalt und Missbrauch, in dem wir alle offen darüber sprechen können, ohne dabei Stigmata und Verurteilung ausgesetzt zu sein. Ich wünsche mir verpflichtende Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen für SchülerInnen, Pädagogen und Pädagoginnen sowie Eltern an allen Bildungseinrichtungen und ich wünsche mir mehr Angebote und Hilfestellungen für die Betroffenen sexualisierter Gewalt sowie mehr Kassenplätze für Psychotherapie. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der man sich nicht mehr schämen muss, sensible Themen wie Gewalt, Sexualität oder psychische Probleme anzusprechen. Ich wünsche mir, dass man uns Betroffene fragt, was unsere Wünsche und Bedürfnisse diesbezüglich sind, anstatt uns ungefragt eine Opferrolle überzustülpen und praktischerweise zu erwarten, dass wir alle grundsätzlich darüber schweigen möchten. Das ist nämlich oft gar nicht der Fall. Ich persönlich traue mich häufig nur einfach nicht, weil es erstens ein schambesetztes und tabuisiertes Thema ist und weil ich zweitens das Gefühl habe, dass der Großteil der Bevölkerung das sowieso nicht hören will. Und das macht mich traurig, weil es dazu führt, dass Betroffene weiter schweigen.

 

 

Seit dem letzten Übergriff durch ihn sind mittlerweile mehrere Jahre vergangen und - Überraschung - mir geht es noch immer nicht gut. Ich finde Wege und Möglichkeiten, mir ein lebenswertes, erfülltes Leben zu erkämpfen, aber ich bin noch immer von diversen psychischen Erkrankungen und Spätfolgen betroffen und mein Alltag (der nach außen hin womöglich sogar recht entspannt aussieht) verlangt mir viel Kraft ab. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht in irgendeiner Art und Weise mit dem Missbrauch konfrontiert werde – mal kann ich besser damit umgehen, mal weniger gut. Aber vergessen werde ich nie. Auch dafür wünsche ich mir mehr Verständnis. Niemand sucht sich eine psychische Erkrankung aus und es wird Zeit, dass wir seelische Leiden ebenso ernst nehmen wie körperliche und dass wir endlich offen, ehrlich, respektvoll und urteilsfrei darüber sprechen.

 

- anonym -

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ulla (Montag, 20 Dezember 2021 19:02)

    Ich finde diesen Text sehr mutig und habe selber in meiner Familie , 2 Fälle von sexuellen Übergriffen ! Meine Tochter wurde als kleines Kind, von einem Bekannten unserer
    Familie , oft und massiv sexuellem belästigt , wir haben es erst viel zu spät erfahren ! Immer habe ich auf meinen damaligen Partner geschaut , wie er mit den Kindern um geht , sie anfasst und dabei war es unser Freund ! Ich habe mir damals viele Vorwürfe gemacht , warum habe ich es nicht bemerkt !!!!! Meine Nichte wurde nach Feierabend, vergewaltigt ! Beide leiden noch heute , nach so vielen Jahren , unter diesen Erinnerungen ! Ich hoffe für die Schreiberin von diesem Artikel , das der Schmerz und das Schamgefühl irgendwann ,mit den Jahren weniger wird , denn ganz verschwinden wird es nicht ! Viele liebe Grüße und Kopf hoch , diese Schweinehund bekommen auch noch ihre Quittung , daran müssen wir fest glauben !