Ich habe Anzeige erstattet

 

 

Ich habe Anzeige erstattet.

 

Ich wurde von meinem Vater über mehrere Jahre hinweg sexuell missbraucht. Meine Mutter hat es irgendwann erfahren, aber mein Vater wurde nicht angezeigt. Das Leben ging weiter, als sei nichts geschehen. Es hat einige Jahre gebraucht, bis ich angefangen habe zu realisieren, was passiert ist. Bis ich die Kraft hatte, mich damit auseinanderzusetzen und mich zu erinnern. Und damit kamen auch die Fragen. Fragen über Fragen…

 

 

Ist es meine Pflicht, den sexuellen Missbrauch anzuzeigen, um andere Kinder zu schützen? Ist es gerecht, den eigenen Vater ins Gefängnis zu bringen? Was ist Gerechtigkeit überhaupt? Habe ich das Recht, über richtig und falsch zu entscheiden? Darf ich mich gegen den Willen meiner halben Familie entscheiden und meinen Vater bei der Polizei melden? Was passiert, wenn ich Anzeige erstatte?

 

 

Ich war verzweifelt, habe mich innerlich zerrissen und kaputt gefühlt. Mein Kopf schien vor lauter Nachdenken zu zerbersten. Ich habe geheult, saß zusammengekauert und zitternd auf dem Sofa. Ich lag minutenlang auf eiskaltem Boden, um wieder atmen zu können. Ich habe versucht meinen innerlichen Schmerz mit äußerlichen Schmerzen zu bekämpfen. Ich habe Abschiedsbriefe geschrieben.

 

 

Ich war bei einer Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt. Ich war beim Opferhilfebüro und habe mir einen Gerichtssaal von innen angeschaut, zugehört, wo ich vielleicht irgendwann sitze und wo der Angeklagte sitzt. Mir wurde eine Anwältin für Opferrecht empfohlen.

 

 

Und irgendwann habe ich mir dann ein Herz gefasst und bin allein zur Polizeidienststelle. Habe bei der Anmeldung gesagt, dass ich eine Anzeige wegen sexuellem Missbrauch machen möchte. Ich saß allein im Warteraum, beobachtet von der Kamera, und habe darauf gewartet, dass die zuständige Person kommt. Sie kam, und es folgten mehr als zwei Stunden, in denen ich all meine Erinnerungen geschildert habe. Ich wurde nach allen Details gefragt, nach Orten, Uhrzeiten, meinen Gefühlen, Möbeln, Zimmergrößen, allem. Ich wurde – erneut – darauf hingewiesen, dass es im Zweifel auf meine Argumentation und auf kleine Details ankommt, ob mir geglaubt wird oder nicht. Ich saß schwitzend auf dem billigen Stuhl und habe versucht, dem zuständigen Polizisten möglichst korrekte Angaben zu geben und mich richtig zu erinnern.

 

 

Danach war ich erleichtert. Es war ein unvermeidlicher Schritt, der sich richtig angefühlt hat. Und gleichzeitig musste ich meiner Familie sagen, dass sich die Polizei in den nächsten Tagen bei ihnen melden wird. Ich wusste, dass ich mit der Anzeige ein Prozess ins Rollen gebracht habe, der sich nicht mehr stoppen lässt und bei dem der Ausgang ungewiss ist. Dass ab jetzt Zeugenvernehmungen durchgeführt werden. Dass die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt eingeschaltet werden. Und dass ich nichts weiter tun kann als warten.

 

 

Die endlosen Gedankenkreisel blieben, genauso wie die immer wieder auftretende Verzweiflung. Alles war so groß und bedeutend und gleichzeitig unüberschaubar. Zwischendurch die Entdeckung, dass ich ungewollt Falschaussagen getätigt habe, da ich Erinnerungen teilweise komplett verdrängt hatte. Und damit einhergehend die Frage, inwiefern ich meinen eigenen Erinnerungen überhaupt vertrauen kann. Gibt es noch mehr Erinnerungen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann? Wie groß sind die Teile, die ich verdrängt habe, um zu überleben? Woher weiß ich, dass meine bestehenden Erinnerungen der Wahrheit entsprechen? Fragen, die mir den Boden unter den Füßen weggerissen haben. Noch mehr Verzweiflung, schlaflose Nächte, stundenlange Weinkrämpfe, Zigarette nach Zigarette, kaltes Metall auf meiner Haut.

 

 

Schon zu Beginn wurde mir gesagt, dass sich die Ermittlungen mehr als ein Jahr ziehen können. Die Beratungsstelle hat mir eindringlich erklärt, dass Opfern von sexueller Gewalt oftmals nicht geglaubt wird und dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Prozess ins Leere läuft. Und dass die psychische Stabilität der Opfer dadurch entsprechend einen kräftigen Schlag abbekommt. Die Beratungsstelle hat mir empfohlen, mir sehr genau zu überlegen, ob ich wirklich Anzeige erstatten möchte.

 

 

Ich habe (trotzdem) Anzeige erstattet.

 

 

Die Anwältin für Opferrecht hat für mich Nebenklage beantragt. Sie hat mich beraten, unterstützt und den Kontakt zur Staatsanwaltschaft und zum Gericht gehalten. Sie hat vorläufige Dokumentationen der polizeilichen Untersuchung für mich angefordert.

 

 

Irgendwann ein Anruf vom Landeskriminalamt. Briefe vom Gericht. Schließlich die Einladung für den Gerichtsprozess.

 

 

Es war hart. Das Warten auf dem Flur. Die Bereitschaft, in jedem Moment aufgerufen zu werden, um nach langer Zeit den eigenen Vater im Gerichtssaal wiederzusehen. Schließlich die Aussage vor Gericht, vor den Anwälten, vor der Richterin und vor allem im Angesicht der Person, die mich über Jahre hinweg sexuell missbraucht hat. Im Angesicht der Person, die ich als kleines Kind Papa genannt hat. Die Person, deren Hauptaufgabe darin bestanden hätte, mich vor den Gefahren der Welt zu schützen. Und neben mir meine kleine Schwester, in Tränen aufgelöst. Meine Mutter, als Zuschauerin. Und draußen vor der Tür das eigene Kind, gerade mal ein halbes Jahr alt, das seinen Opa vermutlich nie kennenlernen wird.

 

Danach erneutes Warten auf dem Flur, bis das Urteil gefällt wird. Die Hoffnung, dem Vater nicht auf dem Flur gegenübertreten zu müssen. Die Herausforderung, die eigenen Tränen zurückzuhalten und nicht zusammenzubrechen. Sich gegenseitig stützen und halten.

 

 

Das Urteil: Eine Bewährungsstrafe und verpflichtende Psychotherapie. Das Ergebnis für mich und meine Schwester: uns wurde geglaubt und die Richterin hat offiziell anerkannt, dass eine Straftat an uns begangen wurde. Und die Richterin hat berücksichtigt, dass mein Ziel als Nebenklägerin nicht war, eine möglichst hohe Gefängnisstrafe zu erreichen, sondern der Akt des Anzeigens sowie die zwingende Therapie für den Täter im Fokus standen.

 

-AnnaLena-

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0