Wortmut

Schwarz-weiß Bild von Wortmut am Strand, sie schaut über ihre Schulter Richtung Kamera.

Wenn ich allein mit einem Mann im Raum bin, bin ich fassungslos, wenn er nichts Sexuelles von mir will.       Und ich unberührt entkomme.


 „Vor was hast du am meisten Angst?“

 

 Diese Frage hat mir meine beste Freundin letztens gestellt. „Vergewaltigt zu werden“ war meine Antwort.  Sie konnte nicht verstehen, dass meine größte Angst nicht die vor meinem Tod ist. Und ich habe lange überlegt, ob ich ihr die Wahrheit sage.

 

Die Wahrheit ist, dass ich mit 13 Jahren einen Freund hatte. Der in meinem Alter war und dem ich unbedingt gefallen wollte. Dabei haben mir noch nicht mal unsere Zungenküsse gefallen. Aber ich habe geschwiegen. Ich habe geschwiegen als er sich ausgezogen hat und als auch ich nackt neben ihm lag. Ich habe geschwiegen als er mit schwitzigen Händen meine Brüste umfasste. Und mit seinen Fingern meine Vagina erkundete. Ich habe geschwiegen, als er meine Hände auf seinen Penis legte und sich dann masturbierte. Ich habe geschwiegen, als er auf mir lag. Mehr als ein Jahr waren wir zusammen. Ich habe in der Zeit meine Periode bekommen. Für meine Freundinnen war es das Ereignis. Und für mich war es die Hölle. Ich wusste, wenn ich jetzt nicht aufpasse, werde ich schwanger. Ich hatte Angst. Viel Angst. Und trotzdem habe ich geschwiegen.  Im Internet wurde mir geschrieben, dass es meine Schuld sei, weil ich ihm ja gefallen wolle. Und ich habe es geglaubt. 

 

Ich habe auch geglaubt, dass es meine Schuld sei, als mich mit 16 drei Jungs auf einem Bahnhof umzingelten und mir in den Zug folgten und mich dort fotografierten. Da haben alle um mich herum geschwiegen. 

 Ich wurde nie vergewaltigt. Das war für die erste Person, der ich mich anvertraute, der Anlass zu sagen, dass es dann ja wohl nicht schlimm gewesen sei. Aber für mich war es schlimm. Und ist es noch.

 

Wenn ich allein mit einem Mann im Raum bin, bin ich fassungslos, wenn er nichts Sexuelles von mir will. Und ich unberührt entkomme.

 

Ich bin jetzt 18 Jahre alt. Suizidal, magersüchtig und meinen Körper zieren Narben. Selbstverletzungsnarben. Ich habe versucht den Schmerz und meine Schande wegzuschneiden. Ich habe meine Brüste und meine Vagina mit Schnitten übersäht. Wie meine Arme und Oberschenkel. Ich habe einen Zaun auf meinem Körper errichtet, der mich schützt vor ungewollten Berührungen und damit versucht, seine Berührungen vergessen zu machen, die wie Schmutz an mir kleben.

 Meine Periode habe ich durch das Hungern schon seit Jahren nicht mehr. 

 

Ich habe gelernt, dass meine Weiblichkeit Gefahr bedeutet. 

 

Und vor allem, dass es niemand wahrhaben will. Meine Eltern bezeichnen meinen damaligen Freund immer noch als Gentleman. Und wenn ich mich so anziehe, dass meine Weiblichkeit doch mal betont wird, sagen sie, dass ich aussehe wie eine Nutte.

 

Ich frage mich, ob ich anders gehandelt hätte, wenn wir Zuhause über Sexualität und Selbstbestimmung geredet hätten. Wenn wir in der Schule nicht nur gelernt hätten, wie ein Kind entsteht, sondern auch, dass man "Nein" sagen darf und sollte. Wenn wir über sexuelle Orientierung geredet hätten, so wie es der Lehrplan eigentlich vorsah. Ich frage mich, ob ich mir Hilfe geholt hätte, wenn ich gewusst hätte von den Beratungsstellen. Auf all das werde ich wohl nie eine Antwort bekommen. Aber ich werde mein Bestes geben, damit anderen nicht das passiert, was mir passiert ist. Ich mache dieses Jahr mein Abitur. Mein großer Traum ist es, einmal in Schulen zu stehen und Jungen und Mädchen zu bestärken, ihre Grenzen zu schützen. Ihnen begreiflich zu machen, dass alles schlimm ist, was sexuell gegen ihren Willen geschieht. Sie zu sensibilisieren und aufzuklären. Sie zu ermutigen. (Deshalb erzähle ich auch euch meine Geschichte).

 

All das sage ich meiner Freundin.  Ich sage ihr, dass es zu oft Betroffene sind, die sich die Schuld geben und dass sie meistens mit ihr weiterleben. Und dass der Tod mir deshalb keine Angst macht.

 

Meine Freundin schaut mich an, mit Tränen in den Augen und sagt ich weiß. Mir ist das Gleiche passiert.