Winterwunderkind

Abstraktes Schwarz-Weiß-Bild

Manchmal nahm er mich mit in den Schuppen, dort waren die Schmerzen am Größten, doch ich musste mitgehen, sonst holt er meine Schwester, hat er gesagt.


Wenn ich meine Mutter heute nach dem Bauarbeiter frage, der jahrelang an unserem Haus und den Nachbarhäusern gearbeitet hat, lächelt sie und sagt, dass ich mit ihm immer verstecken gespielt habe.

Doch meine Erinnerung an das Verstecken ist eine andere. Es war kein Spiel, nicht für mich.


Ich erinnere mich, wie ich in einem kleinen Schuppen sitze, vorsichtig durch die Spalten zwischen den Holzlatten schauend, die Luft anhaltend, zitternd und stumm bittend, dass er mich nicht findet. Erleichtert aufatmend, als ich ihn nicht mehr sehen kann.
Doch plötzlich ein Schatten. Ich krieche in die hinterste Ecke des kleinen Raums und weiß, er hat mich gefunden.

Es ist ein wunderschöner Sommertag, warm genug für mein Lieblingskleid. Das Kleid ist rosa mit Batik-Muster und einem Herz aus Strasssteinchen auf der Brust und deshalb mein liebstes, weil ich es von meiner besten Freundin geschenkt bekommen habe.
Ich laufe die Treppe in den Hof hinunter, die letzten vier Stufen überspringe ich mit einem Satz und überlege dann, was ich mit dem Nachmittag noch anfangen kann. Ich entscheide mich dafür, mit meinen imaginären Pferden (die mir in diesem Moment natürlich überaus real vorkommen) auszureiten, denn mein schwarzer Hengst Blacky muss heute noch bewegt werden. Ich mache mich also auf die Suche nach einer geeigneten Gerte, als er über das Kopfsteinpflaster auf mich zu kommt.

 

Ich fühle mich unwohl, denn er schaut mich immer so komisch an, kommt immer so nah.


„Na, Süße, was machst’n da?“ Ich drehe mich etwas beschämt weg, denn ein Teil von mir weiß sehr wohl, dass sich die Pferdewelt in meinem Kopf von der Welt der Erwachsenen unterscheidet. Es ist mir unangenehm, ihm von Blacky zu erzählen, er wird mich bloß auslachen. Also sage ich gar nichts. „Kannst Du auf der Bank laufen, ohne runterzufallen?“ „Natürlich!“ sage ich, und klettere auf die Bierbank. Sie wackelt etwas auf dem Kopfsteinpflaster, aber ich kann mich mit ausgestreckten Armen gut ausbalancieren. Deshalb ärgert es mich, dass er trotzdem einen Schritt auf mich zukommt und nach mir greift. „Ich kann das alleine!“ versuche ich mich zu verteidigen, doch er streckt unbeeindruckt seine Hände nach mir aus und umfasst meine Hüfte. Er riecht unangenehm nach Schweiß und Bier. Seine Hände umschlingen mich fest und die eine wandert zwischen meine Beine. „Fühlt sich gut an he?“
Nein, das tut es nicht, doch aus meinem Mund kommt kein Wort. Ich bekomme Angst.

Ich erzähle meinen Eltern nichts davon, er hat gesagt, es ist unser Geheimnis und Geheimnisse muss man hüten.


Als ich mich abends im Bad fertig mache, wasche ich mich mehrmals und versuche ihn abzuschrubben bis es schmerzt, doch ich spüre seine Hände noch immer.

Ab diesem Tag wollte er öfters mit mir spielen, vor allem, wenn ich alleine im Hof war. Manchmal hob er mich hoch und setzte mich auf den Baum, wobei er seine Hand unter mein Kleid schob. Seine Finger in mir taten weh, doch sagen konnte ich nichts und wenn eine Träne floss, tat er mir noch mehr weh.


Manchmal nahm er mich mit in den Schuppen, dort waren die Schmerzen am Größten, doch ich musste mitgehen, sonst holt er meine Schwester, hat er gesagt.

Diese Spiele sind vorbei, ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, doch die Schäden sind bis heute da.
Ich hatte mein Leben lang Angst vor Männern, wenn einer mein Zimmer betreten hat, habe ich mich in stiller Panik in mich selbst zurückgezogen. Bei jedem Türklingeln habe ich mich versteckt, meinen Eltern nie mehr wirklich vertraut, mich nie mehr sicher gefühlt bei den Menschen, die mich nicht beschützt haben, obwohl sie hätten sehen müssen.


Ich habe die Schuld bei mir selbst gesucht, meinen Körper zerschnitten, gehungert und mich aus tiefster Seele gehasst. Ich konnte nicht mehr „Nein“ sagen, bis heute fällt es mir schwer. Habe Männer über mir kommen lassen, habe alles zugelassen, nie verneint, denn ich bin es nicht wert, meine Meinung zu äußern, ich habe keine Stimme und erst recht kein Recht. Ich habe die Schmerzen verdient, die blauen Flecken zwischen meinen Schenkeln, das Blut… Vor allem das Blut.

Also nein, es war zu keinem Zeitpunkt ein Spiel.