Marion

"Diesen Anblick werde ich nie vergessen: Er, neben den hellblauen Vorhängen mit der Zigarette in der Hand. Sein Körper war komplett frei und ich sah seinen Penis im Licht des Morgens. Ich fand ihn ekelhaft."


 

Mit 11 Jahren bekam ich meine Periode, das war 1991. In diesem Jahr hatte ich auch meinen ersten Freund. Mein erster Kuss. Ich weiß noch, damals war ich so „geniert“ von dem Kuss, dass ich weitere 5 Minuten an seinem Hals hängen blieb, um meine roten Backen zu verheimlichen!

Als ich dann 13 war, verliebte ich mich im Sommer in einem Jungen aus Paris, er verbrachte seine Ferien im Süden, bei uns im Dorf. Er hieß Bertrand, war 17 Jahre alt und ich fand ihn ganz toll. In der Nacht bevor ich mit meiner Mutter und meiner Oma selbst in den Ferien ans Meer fuhr, verbrachte ich die Nacht mit ihm. Mein erstes Mal! Er war sanft und vorsichtig und nach dem Sex duschten wir zusammen und er wusch mich. Ich bin ihm so dankbar für diese erste Erfahrung.

Am Meer konnte ich nichts genießen: ich dachte die ganze Zeit an Bertrand und wollte ihn unbedingt noch einmal sehen bevor er wieder nach Paris fuhr. Nach einer Woche waren meine Mutter und Großmutter so genervt von meiner schlechten Laune, dass sie mich nach Hause schickten. Ich sollte von meinem Opa abgeholt werden, für eine Nacht bei meiner Tante bleiben und mein Vater sollte mich dort am nächsten Tag abholen.

 

Meine Tante Christiane war damals um die 35 Jahre alt. Ihre Tochter, meine Cousine, war 9. Christiane war Alkoholikerin und lebte seit Jahren unter der Vollmacht eines staatlichen Vormundes. Sie hatte gerade genug Geld um sich etwas zu essen zu holen.

 

In dieser Nacht entschied sich meine Tante, meine Cousine und mich mit in die Disko zu nehmen, zusammen mit zwei „Freunden“ von ihr, sie waren 30 und 25 Jahre alt. An der Kasse musste meine Tante unterschreiben, dass sie für uns die Verantwortung übernimmt.

Wir blieben mehrere Stunden in dieser Disko und saßen zusammen draußen. Als wir gingen, irgendwann in der Nacht, sagte meine Tante zu mir, der 25-Jährige würde mich nach Hause fahren, sie und meine Cousine würden mit dem anderen Freund fahren.

 

Nach ein paar Kilometern hielt er am Straßenrand und fing an mich zu küssen.

 

Es war sehr dunkel und drum herum nur Wald. Während er mich küsste, legte er seine Hand zwischen meine Beine und versuchte an meine Scheide zu kommen. Ich drückte seine Hand weg. Dann sagte er, er würde mich an einen Ort bringen, den er sehr gerne mag. Ich war erleichtert, dass er weiterfuhr und erwartete einen romantischen Ort, am Felsen über der Stadt oder so etwas... Stattdessen parkte er vor einem Hotel. Wir gingen zum Empfang und er fragte nach einem Zimmer. Der Mann lächelte ihn an und gab ihm ohne weitere Frage den Schlüssel. Ich versuchte nicht zu fliehen. Ich folgte ihm ohne mich zu wehren –was ich mir lange zum Vorwurf machte.

 

Als wir im Zimmer ankamen, ging ich sofort ins Bad und schloss die Tür hinter mir. Ich weiß nicht wie lange ich im Bad blieb. Irgendwann kam ich raus. Er lag nackt auf dem Bett und sagte, ich solle mich ausziehen, was ich tat. An das, was dann genau geschah, kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Oder vielleicht ist es auch besser so...

Nachdem er fertig war, ging er nackt zum Fenster und rauchte eine Zigarette.

Diesen Anblick werde ich nie vergessen: Er, neben den hellblauen Vorhängen mit der Zigarette in der Hand. Sein Körper war komplett frei und ich sah seinen Penis im Licht des Morgens. Ich fand ihn ekelhaft.

Er sagte, es sei ziemlich geil gewesen, es wäre aber noch schöner, hätte ich keine Haare gehabt.

Dann fuhr er mich zu meiner Tante. Sie war schwer betrunken und weinte. Sie sagte, sie hätte sich Sorgen gemacht und fragte, warum ich ihr so etwas antun würde.

 

Ich machte mir Vorwürfe und erzählte niemandem davon, Jahre lang.

 

Ein paar Jahre später, als sie meine dann 13-jährige Cousine zu einem ihrer „Freunde“ brachte, habe ich etwas verstanden... ich glaube, sie bekam dafür Geld.

Als ich erfuhr, dass meine Cousine eine ähnliche Situation erlebte wie ich 4 Jahre zuvor (bei ihr war es etwas anders, denn sie traf den 40-Jährigen über Wochen regelmäßig...), erzählte ich meinen Eltern, was mir widerfahren war. Ich bekam keine Reaktion. Nichts.

Also erzählte ich es auch weiterhin niemanden, da es eh nichts brachte.

 

Das Ganze ist jetzt 24 Jahre her. Meine Tante starb ein paar Jahre später an Alkohol, 1998. Ich habe jahrelang ihr Grab gepflegt, vielleicht um zu versuchen mir ihr Frieden zu schließen? Ich besuche sie aber seit langem nicht mehr.

Bertrand habe ich nie wieder gesehen.

 

Ich habe 20 Jahre lang Therapie gemacht, mit Unterbrechungen. Erst nach einem Jahr Therapie traute ich mich über meine Vergewaltigung zu sprechen. Damals nannte ich es aber nicht so und sah es auch nicht so.

 

Ich dachte, ich wäre schuld daran, dass es mir passiert war.

 

Die letzten Schuldgefühle habe ich vor ein paar Jahren auf ein Blatt Papier geschrieben und mit einem Stein beschwert in einem See geworfen. Es hört sich etwas esoterisch an, hat aber sehr geholfen!

Seitdem ich verstanden habe, dass ich keine Schuld trage und mir auch nichts vorwerfen darf, bin ich viel glücklicher. Es hat sehr viele Jahre gedauert, bis ich es wirklich verinnerlicht hatte.

Ich habe mittlerweile eine erblühte Sexualität und sehe den nackten Mann am blauen Fenster nur noch, wenn ich bewusst die Erinnerung abrufe. Wie eben, beim Schreiben.

 

Ich möchte gerne jedem, der Opfer Sexueller Gewalt geworden ist, dazu ermutigen darüber zu sprechen, sich Hilfe zu holen und mit sich und der Welt Frieden zu schließen.

 

Es ist möglich.