Marie-Louis

"Wenn du nicht stark genug bist, gehst du einfach daran kaputt. Eine Lebensaufgabe, für die ich mich nicht entschieden habe. Aufgezwungen, als ich die Welt noch nicht verstand."


 

Ich weiß nicht mehr genau wie alt ich war als sich mein Vater das erste Mal an mir verging. Ich weiß nicht wie lange er es gemacht hat und ich weiß nicht wie oft. Ich kann mich nur noch an einzelne Momente erinnern. Zumindest denke ich das. Vielleicht waren da nicht mehr. Aber vielleicht sind auch Dinge passiert die mein Gehirn einfach gelöscht hat.

 

Ich kann mich noch sehr genau an den Tag erinnern, nach der Nacht als es das erste Mal passiert ist. Wir waren bei einem Grillfest bei Freunden. Da hat es schon angefangen mit diesem Versteckspiel. Ich habe mich gefragt ob es normal ist was da passiert ist. Habe mich gefragt ob meine Mama davon weiß. Habe mich gefragt ob ich ihr davon erzählen kann. Ich habe es nicht gemacht. Zu sehr war ich verunsichert. Und doch habe ich gemerkt, dass das, was da passiert ist, nicht richtig war.

Ich kann mich sehr schlecht an meine Kindheit erinnern, aber sehr gut an die Gefühle in mir an diesem Tag.

 

Danach hat es dazu gehört. War irgendwie normal. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich danach noch gefragt habe, ob das jetzt normal ist oder nicht.

 

Meistens ist er abends noch zum „schneckeln“ gekommen. Auch wenn mein kleiner Bruder neben mir lag und geschlafen hat. Oder wir im Urlaub waren und im VW-Bus geschlafen haben und alle meine Geschwister einschließlich meiner Mutter anwesend waren.

Wenn er gekommen ist, hat er seinen harten Penis an meiner Klitoris gerieben. Das war ein gutes Gefühl. Er hat es geschafft, dass ich es gut fand, was er da tat. Ich fand es aber zum kotzen eklig, wenn er mit seiner Zunge so lang über meine Lippen geleckt hat bis ich mein Mund aufgemacht habe, damit er sein Zunge reinstecken konnte. Und jedes Mal hätte ich sie am liebsten abgebissen.

Es war ein gutes und ekliges Gefühl zugleich.

 

Irgendwann hat es aufgehört.

 

Er war wieder da, als ich draußen auf der Terrasse geschlafen habe und plötzlich hat mir irgendwas gesagt, dass jetzt Schluss damit ist. Und ich habe mich ruckartig weggedreht und bin dann in mein Zimmer gegangen. Am nächsten Morgen kam er in mein Zimmer und hat sich entschuldigt. Am Frühstückstisch am gleichen Morgen wurde ich von meinen Geschwistern gefragt, warum ich doch nicht draußen geschlafen habe. Ich sagte, weil mir kalt war. Ob mein Vater was dazu sagte, weiß ich nicht mehr.

 

Ich wusste, dass mein Vater bei meiner Schwester dasselbe tat. Ich hab es gespürt.

 

Hab es an ihrem und seinem Verhalten erkannt. Aber all das war ein Gefühl. Ich konnte es nicht zuordnen, geschweige denn in Worte fassen.

Erst als ich an Weihnachten das Tagebuch meiner ältesten Schwester gelesen habe, bin ich „aufgewacht“.  Dort habe ich nur rausgelesen, dass sie auch betroffen ist. Also habe ich ihr einen Brief geschrieben.  Sie hat mir geantwortet. Hat bestürzt reagiert, mir Glauben geschenkt und war für mich da.

Sie hat meinem Vater gesagt, er müsse es unsere Mutter sagen, sonst würde sie es tun. Er hat es ihr dann gesagt während sie zusammen im Urlaub waren. Ich war mit meinen beiden Schwestern zuhause. Wir haben uns gegenseitig aufgebaut und zugehört. Aber auch hier kann ich mich nur noch an Bruchstücke erinnern. Wie ich abends vor dem Einschlafen dachte, dass ich verrückt werde, weil mir die Bilder nicht mehr aus dem Kopf gingen. Da habe ich zum ersten Mal wenigstens zum Teil verstanden, was passiert ist.

 

Meine Mutter hatte davon erfahren. Unsere Brüder erstmal nicht. Und damit war das Thema erstmal gegessen.

 

Der Vater ist nicht ausgezogen, meine Eltern haben sich nicht getrennt. Meine Mutter dachte, dass das das Beste für uns alle wäre.

Ich habe es niemandem außer meiner besten Freundin erzählt. Damals waren wir erst 14. Sie hat es damals vermutlich auch nicht wirklich verstanden. Später irgendwann habe ich es noch mehr Freunden erzählt, mit denen ich dann auch darüber sprechen konnte.

Ich habe mich mit meinem Vater noch ziemlich gut verstanden. Allerdings würde ich im Nachhinein sagen, dass er für mich nicht wirklich ein Vater war sondern einfach jemand, der da war, wenn man ihn gebraucht hat.

 

Der Vater, der mich nachts missbraucht hat wurde erstmal in eine Schublade gesteckt und für die nächsten Jahre nicht mehr rausgeholt.

 

Es ist ja nicht so, dass er an sich ein schlechter Mensch ist. Zumindest nicht offensichtlich. Genauso wie er mir geschadet hat, hat er mir auch viel gegeben. Er war da, wenn ich ihn gebraucht habe, hat mir zugehört, hat mich unterstützt. Bis heute ist es schwierig diese zwei Seiten an ihm zusammen zu bringen. Ich glaube ich habe bis jetzt nicht wirklich begriffen, dass das ein und derselbe Mensch ist.

Das war nicht immer einfach diese Situation. Gerade aus dem Grund, dass einzelne Freunde wussten was passiert ist und mir das Zusammentreffen meiner Freunde und meines Vater immer sehr unangenehm war.

 

Was ich seit dem Missbrauch nicht gebrauchen konnte, war Körperkontakt zu meinem Vater. Eine Umarmung war zu viel. Das hat er nie respektiert. Ich hab es ihm nie gesagt, gefragt hat er aber auch nie. Allgemein habe ich bis heute das Gefühl, dass er nicht verstanden hat, was er eigentlich getan hat. Welche Auswirkungen diese Tat auf unsere ganze Familie hat und wie sehr er unser Leben auf eine negative Art und Weise geprägt hat.

 

Das ist auch das, was mich so sehr verletzt, erniedrigt und das eigentlich Schlimme an der ganzen Sache ist: Ich habe noch kein Fünkchen Schuld, Scham oder Reue in den Augen meines Vaters gesehen.

 

Vor ca. einem Jahren kam das Thema wieder auf, im Zusammenhang damit dass wir, also meine Schwestern und meine Mutter, uns Gedanken über die Verantwortung die wir eigentlich tragen, gemacht haben. Unser ältester Bruder hat zwei kleine Söhne, mit denen unser Vater durchaus auch in Kontakt stand. Und auch alle anderen Kinder in seinem Umfeld.

 

Mein Vater hat mich nach Hause gefahren und ich hab ihn im Auto gefragt, was er denn davon halte, wenn wir es unseren Brüdern sagen. Natürlich fand er es nicht gut. Leider ist auch hier meine Erinnerung ziemlich verblasst. Ich glaube, er sagte, dass es nur eine Belastung für unsere Brüder sei usw. Hat weniger nach meiner Meinung gefragt, als einfach nur seine zu verkünden und mir deutlich zu machen, dass er diese auch für absolut richtig hält. Was sehr deutlich hängen geblieben ist, waren die Worte: „ Wenn ich das Gefühl hätte psychisch krank zu sein, hätte ich mich schon längst selbst eingeliefert­!“  Ich habe ziemlich schnell einfach nichts mehr gesagt. Wir haben uns dann angeschwiegen und kurz bevor wir angekommen sind, hat er einfach angefangen über irgendwas zu sprechen. So als wäre nichts geschehen. Ich bin wortlos aus dem Auto ausgestiegen. Ich war so sehr gekränkt und verletzt. Er hat mir in diesem Moment praktisch meine Würde genommen.

 

Er hat mir, als Täter gesagt was für uns, als Betroffene gut sei….Ohne einen Anflug von Reue.

 

Kurz danach, vielleicht eine Woche, war ich wieder bei meiner Mutter Zuhause. Zwei Freundinnen sind gekommen zum Grillen und mein Bruder war auch da. Ich stand in der Küche als mein Vater hereinkam. Er hat Hallo gesagt. Ich habe ihn ignoriert und ihm sehr deutlich gezeigt das ich ihn weder sehen noch mit ihm sprechen möchte. Später hat mein Bruder ihn zum Essen geholt. Er wusste ja nicht, was passiert war. Und mein Vater kam. Hat sich einfach an Tisch dazugesetzt als wäre alles normal.

 

Wir haben es unseren Brüdern gesagt. Wir Geschwister sind übers Wochenende zusammen weggefahren. Haben über diesen Missbrauch gesprochen. Das war nicht sehr einfach und ist es bis heute nicht. Jeder hat andere Bedürfnisse.

 

Aber es war das Richtige. Dieses Schweigen zu brechen.

 

Auch wenn unsere Familie dadurch ein Stück weit auseinander gebrochen ist. Für die einen ist der Vater nur noch dieser Mensch, der seine Töchter missbraucht hat und für die anderen eben auch der Vater, der eigentlich immer für uns da war.

 

Inzwischen hab ich ihn über ein Jahr nicht mehr gesehen oder was von ihm gehört. Für mich ist er gestorben. Ich werde ihm nicht verzeihen. Nicht, solange er mir nicht zeigt, dass er sich seiner Schuld voll und ganz bewusst ist. Wobei es dafür nun auch schon zu spät wäre. Außerdem hat er mich nie darum gebeten ihm zu verzeihen.

Für die Tat an sich könnte ich ihm verzeihen. Aber nicht für den Umgang damit.                                         

 

Meiner Mutter kann ich verzeihen. Verzeihen, dass sie mich nicht beschützt hat.

Auch wenn das nicht einfach war. Sie hat uns teilweiße nicht verstanden, tut es immer noch nicht immer.

Hat uns nicht immer das Gefühl gegeben 100% auf unsere Seite zu stehen.

 

Ich wünsche mir, dass wir aufhören über dieses Thema zu schweigen. Dass es in die Mitte unserer Gesellschaft getragen wird und man offen darüber sprechen darf und kann. Dass wir unsere Kinder darüber aufklären, damit sie sich nicht fragen müssen ob das jetzt normal ist was da mit ihnen passiert. Dass sie wissen, sie sind nicht allein mit ihren Sorgen, sondern da sind tausend Andere, denen dasselbe passiert ist und die sich nicht dafür schämen müssen, sondern den Mut haben sich zu wehren.