Anne

Schwarz-weißes Bild von Anne, mit Sommersprossen und lockigen Haaren, die frontal in die Kamera blickt.

...Er zeigte mir später, wie ich in der Küche gefilmt wurde, es aber nicht gemerkt hatte… eine ständige Überwachung.


Hallo, ich bin Anne und ich möchte gerne meine Kindheitserfahrungen von zuhause teilen, um andere aufmerksamer zu machen.

Ich bin nach außen hin sehr behütet aufgewachsen, wir haben in einem sehr großen wunderschönen Haus mit großem Garten direkt am Wald gewohnt. Mein Vater war Arzt und hatte dementsprechend ein gutes Ansehen in dem kleinen Städtchen.

 

Meine Erinnerung kommt bruchstückhaft und wirft mich um.

 

Manchmal am Tage, manchmal nachts, manchmal ständig. Ich hatte Angst, große Angst!

Vorm Schlafen bat ich meine Geschwister, ihre Zimmer mit mir zu tauschen, in der Hoffnung die Angst würde aufhören. Ich schnitt mir selber meine Haare, kratzte mir meine Arme auf, stellte mir vor, wie es wäre, nicht mehr da zu sein, wie es wäre, sich einfach aus dem Fenster fallen zu lassen. Ich suchte Menschen, Freunde, aber mein Vater hatte zu jedem eine schlimme Geschichte zu erzählen, die ich damals natürlich glaubte, ja die ich bis vor einem Jahr glaubte als ich anfing alles zu hinterfragen, um festzustellen, dass nichts davon stimmte. Egal wo ich war und was ich machte, mein Vater wusste es immer, Patienten hatten es erzählt… Patienten waren überall und sahen alles was ich machte…


Mein Vater hat immer und überall Fotos gemacht und gefilmt, aus dem Fenster, beim Essen stand die Kamera auf dem Schrank oder aber er zeigte mir später, wie ich in der Küche gefilmt wurde, es aber nicht gemerkt hatte… eine ständige Überwachung.
Einmal gab es einen Patienten der gestorben war und die Wohnung mit Bildern von uns Kindern tapeziert hatte, so erzählte es mein Vater zuhause.


Angst war mein ständiger Begleiter.


Ich flüchtete zu einem guten Freund, wo ich eine Zeit bleiben konnte, aber sie riefen meine Mutter an und ließen mich wieder abholen. Ich flüchtete erneut zu einer Bekannten, durfte eine Zeit bleiben, aber auch sie rief meinen Vater an und ließ mich wieder abholen. Also lief ich einfach raus, irrte durch die Straßen und durfte ein paar Tage bei einem entfernten Bekannten sein, der mich aufgabelte. Später ging ich zu einem Lehrer, dem ich vertraute und sagte, ich möchte zuhause ausziehen und konnte das dann auch mit deren Hilfe. Ich hielt es nur eine zeitlang aus und ging freiwillig zurück.
Ich klaute, ich war schlecht in der Schule, ich „rebellierte“ zuhause.
Niemand konnte mir damals helfen.


Immer wurde gesagt, ich sei „schwierig“ und würde es meinen Eltern nicht leicht machen.


Jahrelang wurde in der Familie in meinem Beisein erzählt, wie anstrengend es mit mir war und wie schwierig es mit mir gewesen sei. Und auch im Ort hatten die Menschen das gleiche Bild von mir.
Niemand sah meine Not!

 

Später in meinem Leben zog es mich immer wieder zu Menschen hin, die anders und für mich interessant waren, es war wie ein Sog zum Gefährlichen. So ging ich einmal während meiner ersten Ausbildungszeit mit einem Typen mit, wo sich in der Wohnung aber sein Kumpel neben mich legte. Ich hatte Glück und mein Nein wurde gehört, es war dennoch ein furchtbares Erlebnis.
Mit meinem langjährigen Freund gab es immer wieder Situationen, die sich für mich nicht gut angefühlt und die ich trotzdem mitgemacht habe, um ihm zu gefallen. Ja manchmal habe ich sogar von alleine etwas angefangen, was ich eigentlich gar nicht wollte und mich nachher schrecklich gefühlt. Es war wie eine Sucht.


Später hatte ich dann einen Chef, für den ich als persönliche Assistentin gearbeitet habe und der mich wie etwas Besonderes hat fühlen lassen, er hat mich bevorzugt, hervorgehoben bis zu dem Tag, als er im Auto seine Hand auf mein Bein gelegt hat und ich nie wieder in die Praxis zur Arbeit ging.


Vor noch nicht allzu langer Zeit habe ich in einer Klinik gearbeitet, dort war ich einmal wegen Beschwerden bei einem Arzt, der dann später als ich an einem Tag Feierabend hatte hinter mir her kam und fragte, was ich vorhabe mir anbot, mir bei meiner Freizeitgestaltung auszuhelfen.
Es fühlte sich so unangenehm an.

 

Vor ca. 2 Jahren wurde ich retraumatisiert.
Meine Familie reagierte katastrophal. Unglauben, konkrete Fragen, sympathisieren mit den Tätern… niemand war bereit sich Hilfe zu holen, um uns zu helfen. Ich habe mit allen gebrochen.


Endlich werde ich die, die ich hätte sein sollen.
Es ist ein harter Weg, ein einsamer Weg, ein schmerzvoller Weg.

Aber ich bin endlich frei.